In Heilbronn gibt es auch wieder jüdisches Leben

Veröffentlicht am 24.04.2012 in AG 60plus

Gemeinde-Vorsitzende Avital Toren informierte SPD-Senioren über Judentum

Die Arbeitsgemeinschaft 60 plus des SPD-Kreisverbands Heilbronn-Land war im Rahmen ihrer Veranstaltungsrunde über Weltreligionen zu Gast in den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde Heilbronn in der Allee 5 im ersten Stock - mit direktem Blick nach gegenüber, wo ein Gedenkstein an die einstige Heilbronner Synagoge erinnert: Sie war 1877 gebaut und eingeweiht worden, ein monumentales orientalisch anmutendes jüdisches Gotteshaus mit Haupt- und vier Nebenkuppeln, Haupt- und zwei Seitenschiffen, nach byzantinischen, islamischen und maurischen Vorbildern. Auch diese Synagoge wurde im Zuge der Reichspogromnacht am Morgen des 10. November 1938 durch Brandstiftung zerstört. Als eines der eindrucksvollsten Bauwerke jüdischer Architekturgeschichte in Deutschland bildete diese vernichtete Heilbronner Synagoge das Motiv einer Sonderbriefmarke, die 1988 in Israel zur Erinnerung an die Zerstörung durch die Pogrome vor 50 Jahren herausgegeben wurde.

Die Thora und der Talmud
Im Domizil der Heilbronner israelitischen Religionsgemeinschaft, deren Räume Versammlungs-, Gebets- und Gemeindehaus sind, werden im Synagogenraum die SPD-Senioren - die Männer mit Kopfbedeckeckung oder Kippa - an Tischen von der umtriebigen Vorsitzenden Avital Toren mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen sowie Mazzen beköstigt. Der Blick geht auf einen großen Schrank an der Stirnseite des Raums. Wie Avital Toren erläuterte, ist es der Aufbewahrungsort der Thora, der Thoraschrein. Thora werden die ersten fünf Bücher des Tenach - für die Christen das Alte Testament - genannt, also die fünf Bücher Moses.

Nach jüdischem Glauben ist die Thora Gottes Wort und von Moses den Kindern Israels verkündet worden. Darum nennt man auch das Judentum die mosaische Religion. Die Thora ist auf Pergamentrollen handschriftlich - mit Federkiel - in Hebräisch niedergelegt und darf nicht gedruckt werden. Frau Toren zeigte eine Thorarolle: Das Pergament wird auf zwei Stäbe gerollt, die oben und unten eine Querscheibe tragen, damit sich beim Rollen das Pergament nicht verschiebt.

Die Thora ist in 54 Abschnitte eingeteilt und wird in einem Zyklus von einem Jahr vom Anfang bis zum Ende in den Schabatt-Gottesdiensten vorgelesen, ausgebreitet auf einem Thoratisch vor dem Schrein. Die Thora, die geistige und geistliche Nahrung für gläubige Juden, darf nicht verändert werden, ist aber interpretierbar und deutbar, und so wird nach den Gottesdiensten über das Gelesene ausführlich mit dem Rabbi diskutiert.

Neben der schriftlichen Thora gibt es noch die mündliche Thora, den Talmud, eine schriftlich gefasste Sammlung von mündlichen Überlieferungen und Gebräuchen. Die kultischen, moralischen und juristischen Vorschriften des Judentums sind in der Thora festgehalten. Das Herzstück sind die Zehn Gebote, die Grundlage des jüdischen Gesetzes; insgesamt werden 613 Gesetze und Verbote erwähnt.

Die Mesusa und die Gebete
Avial Toren machte die SPD-Senioren auch auf etwas aufmerksam, was sie nicht bemerkt haben, da in den Räumlichkeiten gerade Renovierungsarbeiten (neue Fenster) vorgenommen wurden:
Am Haupteingang, am rechten Türpfosten, befindet sich eine kleine Metallhülse, die Mesusa. In ihr steckt eine Pergamentrolle mit den ersten beiden Abschnitten des "Schema Israel", des Glaubensbekenntnisses aus der Hebräischen Bibel, das fromme Juden täglich beten. Die Mesusa, die man beim Eintritt küsst oder berührt, hat eine Öffnung, durch die auf der beschriebenen Pergamentrolle das Wort "Schaddai" - der Allmächtige - erkennbar ist. Frau Toren hat eine solche Mesusa auch bei sich zu Hause, gibt es doch bei Juden keine solche Kluft zwischen Sakralbereich und Privatbereich wie bei Christen. Was die Gebete anbetrifft, so wies sie darauf hin, dass Juden in erster Linie beten um zu danken, nicht um Dinge zu erbitten oder Wünsche erfüllt zu bekommen, noch nicht einmal, um Gottes Gnade zu fühlen.

Wie man Jude ist oder wird
Avital Toren machte deutlich, dass der Wunsch, die Thora kennen zu lernen, im Inneren reifen muss, bevor der sich der aus dem nichtreligiösen Rahmen kommende Mensch sich dem zuwendet. So wie bei ihr, die einem - inzwischen verstorbenen - Mann jüdischen Glaubens geheiratet hat und mit den Kindern eine jüdische Familie bildet(e). Nach mehrjährigem Studium und Begreifen der Schrift geht es darum, am mystischen Gotteserlebnis teilzuhaben, die göttliche Wahrheit zu erkennen und sein Leben danach auszurichten. In der Konversion, mit der man Jude wird, verpflichtet man sich, die "Halada" - jüdische Religionsvorschriften - einzuhalten. Ansonsten gilt grundsätzlich derjenige als Jude, der eine jüdische Mutter hat. Liberale jüdische Gruppierungen kennen all die als Juden an, die sich als Juden ausgeben.

Jüdische Speisegesetze und der Schabbat
Frau Toren berichtete anschaulich über den jüdischen Alltag, der stark von den strengen Speisegesetzen des Judentums - Kaschruth genannt - bestimmt ist. Zwingend im religiösen Haushalt ist, dass die Speisen "koscher" zubereitet werden, also kein Schweinefleisch, sonst nur geschächtetes Fleisch, Fleisch- und Milchprodukte dürfen nicht zusammen kommen, dafür muss es extra Geschirr geben, und auf Butterbrot darf man keine Stück Wurst legen.

Herzstück ist der eng mit der Bildung des Volkes Israel verbundene Schabbat. Nach dem 3500 Jahre alten Schabbat-Gesetz, dass der siebte Tag der göttlichen Schöpfung Ruhe- und Einkehrtag sein soll, gibt es am Schabbat drei feierliche Mahlzeiten, eine am Freitagabend, die zweite am nächsten Morgen nach der Rückkehr aus der Synagoge und die dritte vor Schabbat-Ausgang. Um den feierlichen Charakter der Mahlzeiten zu betonen, wird der Tisch mit einem weißen Damasttuch geschmückt und in die Mitte die Leuchter stellt. Zwei Hefezöpfe werden aufgelegt, die die doppelte Portion Manna, die die Kinder Israels in der Wüste gesammelt haben, symbolisieren. Ein Tuch bedeckt die geflochtenen Brote, und eine Weinflasche steht neben einem Pokal, dem Kidduschbecher (bestimmt für den eventuell erscheinenden Vorboten des Messias). Der Wein sollte "doppelt-koscher" sein und kommt (fast ausschließlich) aus Israel. Neben Kerzen bilden Brot, Salz und Wein die sichtbare Grundlage jeder Schabbateingangsmahlzeit. Weizen, Olivenbaum und Weinrebe waren die wichtigsten Kulturpflanzen des anitken Israel.

In den Hefezöpfen, die aus Weizenmehl hergestellt werden, im Wein und mit den Kerzen - früher wurden mit Olivenöl getränkte Lampen angezündet - wird am Schabbat die Verbundenheit des Volkes Israel mit dem Land Israel ausgedrückt. In festlicher Kleidung versammelt sich die Familie um den Tisch. Die Mutter zündet die Kerzen an, breitet die Hände über das Licht, bedeckt danach mit den Handflächen ihre Augen und spricht den Lichtsegen, mit dem der Schabbat eintritt. Nun folgt der Gang in die Synagoge zum Abendgebet, für Männer verpflichtend. Die darauf folgende Mahlzeit wird durch Gesänge und Segenssprüche über Wein (nur vom Mann) und Brot, den "Kiddusch", eingeleitet. Danach wird das Tuch abgehoben, man fährt mit dem Messer über die Brote und sagt den Segensspruch übers Brot. Üblicherweise wird dem Schabbatmahl durch Singen eine fröhliche Note gegeben.

Die Zeremonien und Bräuche des Schabbats sondern den Freitagabend von den anderen Abenden der Woche ab. In den Riten des Schabbat soll der Mensch seelisch zur Ruhe kommen und Abstand vom Alltag gewinnen. Es ist keine arbeitsmäßige Tätigkeiten erlaubt, auch kein Telefonieren, Radiohören oder Fernsehen, noch nicht einmal die Betätigung eines Schalters, also auch kein Autofahren. Man trifft sich im fußläufigen Umkreis mit Verwandten, Freunden, Nachbarn. Im Judentum ist die Heiligung des Schabbat auch eine Lebenshilfe, um die Familieneinheit zu festigen.

Religiöse Festtage im Judentum
Wie Avital Toren erläuterte, kennt das Judentum eine ganze Reihe von religiösen Festtagen, die mit Jom Kippur - der Stunde des Gerichts - ihren Höhepunkt finden. Dann gibt es "Sukkot" (Laubhüttenfest), "Chanukka" (Wintersonnenwende) und "Purim", auch ein freudiges Ereignis für Kinder. Gerade vorbei war "Passah". Zum Pessach-Fest verlangt die Thora, dass sich nichts Gesäuertes in der Wohnung (oder Festsaal) befindet. Es kommt ungesäuertes Brot auf den Tisch, "Mazzen", was üblicherweise (aus Israel) gekauft wird. Zu den populärsten jüdischen Bräuchen gehört das "Seder"-Mahl am Pessach-Vorabend, das - wie alle formellen Mahlzeiten - mit Segenssprüchen für Wein und Brot beginnt, aber noch genau festgelegte Rituale wie Rezitation der biblischen Geschichte beinhaltet. In Erinnerung an den Exodus - den Auszug der Israeliten aus Ägypten - gib es symbolische Speisen, ein geröstete Lammknochen und ein Ei als Symbol des Passah-Opfers sowie Mazze, also ungesättigtes Brot (wegen der Eile in der Flucht unfertige Zubereitung), ferner bittere Kräuter zum Gedenken an das bittere Leiden.

Die jüdische Gemeinde Heilbronn
Avital Toren zeigte auch weitere jüdische Kultgegenstände (siebenarmiger Leuchter) und Kleidungsstücke (Gebetsmantel und Gebetsringe), wie sie beim Schabbat-Gottesdienst gebraucht werden. Sie wies aber auch darauf hin, dass Schabbat-Gottesdienste nur stattfinden können, wenn zehn Männer anwesend sind. Das ist in Heilbronn nicht immer der Fall, zudem sich die Vorsitzende immer aufs Neue bemühen muss, von der Israelischen Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart, die sowieso nur über zwei Rabbiner verfügt, einen Rabbi zugewiesen zu bekommen.
Zur israelischen Glaubensgemeinschaft Heilbronn zählen etwa 130 Mitglieder, die in Stuttgart gemeldet sind. Es dürften lauf Toren in Heilbronn tatsächlich einige Dutzend mehr sein. Weit überwiegend handelt es sich heute um Kontingentflüchtlinge und ihre Nachkommen aus Ländern der früheren Sowjetunion, von denen einige auch noch die jiddische Sprache sprechen können, die heute - auch in Israel - neben dem Hebräischen wieder stärker im Kommen ist. Der jüdische Glaube ist nach Torens Erfahrungen bei diesen osteuropäischen Juden, die ja offiziell jahrzehntelang von Religionsausübung ausgeschlossen waren, nur sehr peripher vorhanden. Sie pflegten - wenn überhaupt - eher eine gefühlsbetonte Frömmigkeit der Inbrunst und Freude.
Freundschaftlich verbunden mit der jüdischen Gemeinde Heilbronns ist ein Freundeskreis der Synagoge Heilbronn, zu dem derzeit 80 Mitglieder gehören. Gemeindeleiterin Toren sieht ihre Aufgabe auch darin, die Öffentlichkeit und insbesondere Schüler und Schulklassen über Glauben und Leben von Juden zu informieren und die Interessen der hiesigen Juden wahrzunehmen.

Juden in Deutschland und weltweit
Der Schwerpunkt des deutschen Judentums liegt heute wieder in Berlin, wo auch der Zentralrat der Juden in Deutschland seinen Sitz hat. In 23 Landesverbänden mit insgesamt 108 jüdischen Gemeinden (darunter die württembergische in Stuttgart) sind 105 000 Mitglieder organisiert, davon der Großteil aus Osteuropa zugewandert. Die Ausrichtung reicht von streng orthodoxe über Reform- und konservative bis liberale Gemeinden, wobei Stuttgart offiziell als orthodox ausgerichtet gilt (während Avital Toren der liberalen Ausrichtung zuneigt).

Weltweit gibt es derzeit über 13 Millionen Juden. Die meisten - 5,7 Millionen - leben in den USA (1,9 Prozent der Bevölkerung), gut fünf Millionen in Israel (79 Prozent der Landesbevölkerung). In Frankreich gibt es über eine halbe Million Juden, 360 000 in Kanada, etwa je eine Viertelmillion in Großbritannien und Russland, knapp 200 000 in Argentinien, und dann kommt schon Deutschland, etwa gleichauf mit der Ukraine, vor Australien und Brasilien.
(Helmut Sauter)

 

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